Braunschweiger Zeitung vom 24.05.2023

Raus aus der Opferrolle:
Prävention an Hauptschule

Als Gangmitglied ist Fadi Saad einst auf die schiefe Bahn geraten.

Heute leistet der Polizist ehrenamtlich Präventionsarbeit an Schulen.

Fadi Saad hält den Schülerinnen und Schülern der Hauptschule Sophienstraße den Spiegel vor.

Auch er war Hauptschüler, ist auf die schiefe Bahn geraten – und hat dann sein Leben neu geordnet.

DARIUS SIMKA/REGI0S24

Katharina Lohse

Mehr Glaubwürdigkeit und Authentizität geht kaum, wenn Fadi Saad, Buchautor, Dozent und im Hauptberuf Polizeibeamter, vor Schülerinnen und Schülern referiert, Workshops leitet und aus seinem Buch »Der große Bruder von Neukölln« liest. Jetzt war er an zwei Tagen zu Gast an der Hauptschule Sophienstraße in Braunschweig. Mit seiner klaren Ansprache und Ratschlägen ist er ganz nah dran an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen, die an der Schwelle stehen, ihr eigenes Leben zu gestalten. Fadi Saad zeigt ihnen, wie es gelingen kann, ein wertvolles Mitglied für die Gesellschaft zu werden. Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Teilhabe und nicht zuletzt Umgangsformen stehen dann als Themen auf dem Stundenplan.

Braunschweig. »Hast Du Ehre?«, fragt Fadi Saad im Lehrerzimmer der Hauptschule Sophienstraße. Die Frage trifft – und auch nicht. Denn da ist ein großes Fragezeichen. Dann Stille. Ja, Deutsche reagieren so, sagt Saad. »Ein Araber oder Türke würde sagen: Ja klar habe ich Ehre.« Aber welche Bedeutung habe das eigentlich, und was resultiere daraus, schiebt Saad hinterher. 
Saad ist im Berliner Wedding als ältestes von sieben Geschwistern aufgewachsen. Seine Eltern flüchteten aus Palästina über den Libanonnach Deutschland, wo Saad geboren wurde. In der Hauptschule machte Saad schon in jungen Jahren Erfahrungen mit Diskriminierung und Gewalt. Anschluss fand er in einer Jugendgang. Gewalt gehörte zu seinem Leben. Dann auch der Jugendarrest.
»Meine Kumpels haben gesagt, dass der Arrest richtig geil ist, dass man Fußball spielen kann und Leute sieht, die man lange nicht gesehen hat«, erzählt Saad vor den Schülerinnen und Schülern der Klasse 8a. Aber es sei keineswegs so gewesen, wie die anderen erzählten. Die Zelle kalt, die Gedanken an die enttäuschte Mutter nagten. »Ich fragte mich, wie es weitergeht. Habe ich überhaupt eine Chance, wenn ich auf der Hauptschule bin?«
Die Frage wirft Saad in die Klasse. »Was ist Euer Ziel?« Einer sagt: »Erweiterter Realschulabschluss.« Eine andere schließt an, dass sie es noch nicht wisse. Saad hat seinen Schulabschluss nachgeholt, eine Ausbildung zum Bürokaufmann gemacht, dann die Polizeischule besucht. Sein Leben neu sortiert.
Vorher habe beispielsweise Schuleschwänzen zu seinem Alltag gehört. Das, berichtet die stellvertretende Schulleiterin Xenia Gianneskis, sei auch an der Hauptschule Sophienstraße ein Problem. Mitunter ein Einfallstor für illegales Handeln. »Wo geht man hin, wenn man nicht in der Schule ist?«, fragt Saad. Wer alleine wohnt, könne liegen bleiben. Wer bei den Eltern lebt, müsse sich etwas überlegen: Im Sommer im Park abhängen, im Winter in Treppenaufgängen oder Kellern. »Wenn man schwänzt, trifft man auf andere, die auch schwänzen.« Langeweile, Drogen, Straftaten könnten die Folge sein.
Saad, der 2009 den Deutschen Förderpreis Kriminalprävention von der Stüllenberg-Stiftung Münster erhalten hat, hat zwei Bücher über sein Leben als Gangmitglied und über die Bekämpfung von Jugendkriminalität geschrieben. Aus »Der große Bruder von Neukölln – Ich war einer von ihnen« las er in der Hauptschule Sophienstraße vor. 
Aber eben nicht nur das. Er fragte die Schülerinnen und Schüler nach ihren Erfahrungen. »Er spricht auf Augenhöhe«, sagt Gianneskis. Ein wichtiger Bestandteil der Präventionsarbeit an der Schule. Das verfange: »Die Jugendlichen sollen rauskommen aus dem Klischeedenken und einer Opferrolle, aus den Gedanken, dass aus ihnen nichts werden wird.« Gianneskis: »Sie müssen lernen, dass sie sich nicht zufriedengeben sollten.«
Saad war bereits im März zu Gast an der Schule, nun im Mai. Und auch im Juni wird er wieder ehrenamtlich mit weiteren Klassen zusammenarbeiten. Sein Ziel ist es, den Schülerinnen und Schülern einen Spiegel vorzuhalten. »Habt Ihr schon mal jemanden gesehen, der ein Messer trägt? Habt ihr schon erlebt, wie jemand gemobbt wird? Und, habt Ihr mitgemacht? Welches Verhalten imponiert Euch? Wart Ihr schon mal zu Gast in einer de utschen Familie? In einer türkischen?«
Saad will, dass die jugendlichen reflektieren, ihre Lebensrealität, ihr Verhalten. Er will, dass sie eine Idee davon bekommen können, wo es hingeht, wenn etwas schief läuft. Und wie es anders laufen kann. »Was ich nie sage, ist: Du darfst das nicht.« Außer natürlich, es gehe um Gewalt oder den Besitz von Betäubungsmitteln.
Saad spreche die Themen an, die die Jugendlichen bewegen, sagt Gianneskis. Sie hätten einen ähnlichen Hintergrund wie er: Ganz oft seien die Familien finanziell schwach aufgestellt und bildungsfern, die Jugendlichen hätten häufig einen Migrationshintergrund mit allen Sorgen, die die Integration betreffen. Saad bietet einen Anknüpfungspunkt, er ist ein Beispiel dafür, wie es gut gehen kann.

Hier der Artikel der Braunschweig Zeitung vom 24. Mai 2023 im Original: http://hssophienstrasse.eu/wp-content/uploads/2024/09/Fadi_Saad_BZ_24.05.2023.pdf